Wie er zum Dichter geworden ist? Wie er sich zu der Höhe seiner klassischen Lieder entfaltet hat? Keine Antwort ist möglich auf diese Fragen. Aufzeichnungen über seinen dichterischen Werdegang gibt es nicht. Aber einige Vermutungen dürfen gewagt werden. Der Wittenberger Professor und Pfarrer Paul Röber hatte ein Lied gedichtet: “O Tod, o Tod, schreckliches Bild”. Es verdeutlicht die in jener Zeit öfters gehegte Vorstellungen vom Tode. Gerhardt hat dieses Röbersche Gedicht geglättet. Sollten hier wirklich Anfänge seines Dichtens vorliegen? Tonfall und Sprache haben in der Gerhardtschen Form gewiß etwas von den anderen Liedern aus seinem eigenen dichterischen Schaffen an sich. Aber auf diese “Verwandtschaft” ist nicht viel zu geben. Sie liegt im ganzen Charakter, den das geistliche Lied jener Zeit überhaupt hatte. Irgendeine Spur davon, daß Gerhardts Dichten aus solchen ersten Glättungsversuchen heraus begonnen hat, kann man nicht finden. Es erhebt sich die Frage, ob Gerhardt nicht gegen Ende des großen Krieges seine ersten Lieder gedichtet hat? Es Gibt eine Reihe von Liedern, die den Jammer der Kriegsnot schildern. Die Nachdichtung des 85. Psalm (Herr, der du vormals hast dein Land) enthält die Verse:
Ach, daß ich hören sollt´das Wort
erschallen bald auf Erden,
daß Friede sollt´an allem Ort,
wo Christen wohnen, werden!
Ach, daß uns doch Gott sagte zu
des Krieges Schluß, der Waffen Ruh
und alles Unglücks Ende!
Ach, daß doch diese böse Zeit
bald wiche guten Tagen,
damit wir in dem großen Leid
nicht mögen ganz verzagen!
In dem biblischen Psalm ist von Krieg und Kriegsgeschrei nicht die Rede. Der Dichter hat diese Gedanken eingefügt –sollte man nicht darauf schließen können, daß er aus der Not des großen Krieges herauus seinen schweren Seufzer zu Gott schickte? Ebenso singt er in dem Lied:
Wie ist so groß und schwer die Last,
die du uns auferleget hast.
Wie oftmals hat bei Tag und Nacht
der Feinde List und große Macht
uns, deine Herd´, umringt!
Viel unrer Brüder sind geplagt,
von Haus und Hof dazu verjagt:
wir aber haben noch
beim Weinstock und beim Feigenbaum
ein jeder seinen Sitz und Raum.
Sieh an, mein Herz, wie Stadt und Land
an vielen Orten ist gewandt
zum tiefen Untergang:
Der Menschen Hütten sind verstört,
die Götteshäuser umgekehrt.
Aber gerade dieser Hinweis auf den Frieden im eigenen Land will nicht recht zu den geschichtlichen Ereignissen stimmen. Ist nicht gerade Brandenburg und besonders des Dichters Geburtsort Gräfenhainichen und später seine erste Pfarrstelle Mittenwalde furchtbar gebradschatzt worden? Eher könnte das Neujahrslied Nun laßt uns gehen und treten aus den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges stammen, mit der erschütternden Schilderung:
Durch so viel Angst und Plagen,
durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken,
die alle Welt bedecken.
Aber ob nicht in diesen Verse ebensogut ein Nachzittern der ungeheuren Ergebnisse seinen ergreifenden Ausdruck gefunden hat? Mag dem sein, wie ihm wolle, dieses Lied steht auf der höchsten Stufe der Gerhardtschen Dichtkunst. Ebenso wie das jubelnde Lied:
Gott Lob, nun ist erschollen
das edle Fried- und Freudenwort,
daß nunmehr ruhen sollen
die Spieß und Schwerter und Mord.
Wohlauf und nimm nun wieder
dein Saitenspiel hervor,
o Deutschland, und sing Lieder
im hohen vollen Chor!
Sei tausedmal willkommen,
du teure, werte Friedensgab!
Jetzt sehn wir, was für Frommen
dein Bei-uns-wohnen in sich hab´.
In dir hat Gott versenket
all unser Glück und Heil.
Wer sich betrübt und kränket,
der drückt sich selbst den Pfeil
des Herzleids in das Herze
und löscht aus Unverstand
die güldne Freudenkerze
mit seiner eigenen Hand.
Es ist durchaus möglich, daß dieses Lied, das die Verwüszung der Schlösser und Städte, der Felder, die zu dürrer Heide geworden sind, die Gräber voller Leichen, den Tod von unvergleichlichen Helden in dunkler Trauer beklagt, 1648 entstanden ist, das der Kurfürst am 8. November mit allen Glocken in den märkischen Landen läutern ließ, oder 1650, als die schwedischen Truppen aus Berlin abzogen und in St. Nikolai der Propst Lilie die Dankespredigt über den 126. Psalm hielt: Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden! Aber eines ist doch seltsam: Daß alle diese Lieder, die am Anfang des dichterischen Schaffens Gerhardts stehen müßten, nicht in der ersten Sammlung seiner Lieder zu finden sind. Freilich: diese Sammlung ist nicht von ihm vranstaltet. Gerhardt hat im Gegensatz zu den damals berühmten Dichtern nie seine Lieder gesammelt und herausgegeben. Es mag sein, daß das eine oder andere Lied als fliegendes Blatt seine Verbreitung gefunden hat. Aber die erste Veröfentlichung in einem Liederbuch ist von einem Musiker vollbracht worden: von dem Kantor an St. Nikolai zu Berlin, Johann Crüger. Johann Crüger hat im Jahre 1647 in Berlin ein Gesangbuch herausgegeben. Es hatte den Titel “praxis pietatis melica”. Wir würden etwa dafür sagen: Christliche Erbauung im Liede. Eine große Anzahl von herrlichen Liedern evangelicher Dichter hat er zusammengetragen. Darunter sind 15 von Paul Gerhardt. Es ist etwas Überraschendes, wenn man die Anfangszeilen dieser Lieder liest: “Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld”, “O Welt, sieh hier dein Leben”, “Auf, auf, mein Herz mit Freuden”, “Nun ruhen alle Wälder”, “Nun danket all und bringt Ehr´”, “Ich hab´in Gottes Herz und Sinn” — es zeigt uns diese Reihe den Dichter auf vollen Höhen. Die Festlieder zu Passion, Ostern und Pfingsten hat er kaum übertroffen. Höchstens, daß ihm in dem Passionslied “O Haupt voll Blut und Wunden” und dem Pfingstlied “Zeuch ein zu deinen Toren” ein noch innigerer und vollendeterer Klang geschenkt worden ist. In dem Lied ein Lämmlein geht und trägtdie Schuld, geht der Sang hinab auf due Erde, wo die anbetende Menschheit das Wunder des Kreuzes kaum zu fassen vermag. Wie ist die Herrlichkeit der Gottesliebe in der Hingabe des Gottessohnes besungen worden:
O Wunderlieb! O Liebesmacht!
Du kannst, was nie ein Mensch gedacht,
Gott seinen Sohn abzwingen.
O Liebe, Liebe, du bist stark,
du streckest den in Grab und Sarg,
vor dem die Felsen springen.
Es ist, als ob man das Erdbeben beim Tode des Erlösers miterlebe, sooft man diese Worte singt — aber über diesem Erdbeben und der Finsternis, die sich über das ganze Land legt — zugleich die Glorie des geöffneten Himmels. Zu diesem Menscheitsdrama gesellt sich die Seligkeit des Christenmenschen, der weiß, daß dies alles für ihn geschehen ist:
Ich will von deiner Lieblichkeit
bei Nacht und Tage singen,
mich selbst auch dir nach Möglichkeit
zum Freudenopfer bringen:
Mein Bach des Lebens soll sich dir
und deinem Namen für und für
in Dankbarkeit ergießen;
und was du mir zugut getan,
das will ich stets, so tief ich kann,
in mein Gedächtnis schließen.
Daneben steht das Osterlied. Es ist wie ein Holzschnitt von Albrecht Dürer:
Auf, auf, mein Herz, mit Freuden
nimm wahr, was heut geschicht!
Wie kommt nach großem Leiden
nun ein so großes Licht!
Mein Heiland war gelegt
da, wo man uns hinträgt,
wenn von uns unser Geist
gen Himmel ist gereist.
Und dann die Siegesworte, die an eine überstandene Feldschlacht von einst erinnern:
Er war ins Grab gesenket,
der Feind trieb groß Geschrei!
Eh´er´s vermeint und denket,
ist Christus wieder frei
und ruft Viktoria,
schwingt fröhlich hier und da
sein Fähnlein als ein Held,
der Feld und Mut behält.
Kein Wunder, daß bei solchem Schauspiel des himmlischen Triumphes das Christenherz in eine Freude ohnegleichen ausbricht:
Die Welt ist mir ein Lachen
mit ihrem großen Zorn,
sie zürnt und kann nichts machen,
all Arbeit ist verlorn.
Die Trübsal trübt mir nicht
mein Herz und Angesicht,
das Unglück ist mein Glück,
die Nacht mein Sonnenblick.
Die ganz persönliche Geborgenheit, ganz gleich, wo es auch hingehen mag, findet die überzeugenden Worte:
Ich hang und bleib auch hangen
an Christo als ein Glied;
wo mein Haupt durch ist gangen,
da nimmt er mich mit.
Er reißet durch den Tod,
durch Welt, durch Sünd, durch Not,
er reißet durch die Höll´
ich bin stets sein Gesell.
Der Trautgesselle des alten Volksliedes ist hier wieder erstanden, der Tod und Hölle verlachen kann an Christi Seite und seinem Schild. Und das wunderbare Ziel, zu dem der Herr die Seinen führt:
Er bringt mich an die Pforten,
die in den Himmel führt,
daran mit güldnen Worten
der Reim gelessen wird:
Wer dort wird mit verhöhnt,
wird hier auch mit gekrönt;
wer dort mit sterben geht,
wird hier auch mit erhöht.
In dem Pfingstlied O du allersüß´te Freude weisen sich die Schranken des Gerhardtschen Dichtens.
O du allersüß´te Freude,
o du allerschönstes Licht,
der du in Lieb´und Leide
unbesucht uns lässest nicht,
Geist des Höchsten, höchster Fürst,
der du hälst und halten wirst
unaufhörlich alle Dinge,
höre, höre, was ich singe!
Es gehört zu der Eigenart unserer Gesangbücher, daß die Pfingstlieder ihr schwächster Teil sind. Auch Gerhardt ist es in diesem Lied nicht gegeben gewesen, das Unsichtbare und Unbeschreibliche in Bild und Gleichnis zu bannen. Der Theologe hat über den Dichter gesiegt, und der Volkston ist nicht stark genug geworden, um diesen Mangel auszugleichen. Dagegen darf von dem Morgenlied Wach auf, mein Herz und singe gesagt werden, daß beides in beinahe vollendetem Maße zusammentrifft, was Gerhardts Dichten in das Herz des Christenvolkes hat einziehen heißen: die herzhafte Kindlichkeit und die ungesuchte, echt natürliche Frömmigkeit.
Wach auf, mein Herz, und singe
dem Schöpfer aller Dinge,
dem Geber aller Güter,
dem treuen Menschenhüter.
Hört man nicht die poetische Deutung der gewaltigen Erklärung Luthers zum 1. Artikel? Schlägt nicht darin schon das Herz der Christengemeinde aller Zeiten? Und dann kommt eine Trophe, die mich in meiner Kindheit immer besonders bewegt hat, ohne daß ich wußte, warum:
Heint, als die dunklen Schatten
mich ganz umgeben hatten,
hat Satan mein begehret,
Gott aber hat´s gewehret.
Die Schauer der Nacht ziehen auf mit ihrem Grauen des sternlosen Dunkls — und darin das des, der “im Finstern schleichet” — da greift die Gotteshand von oben ein. Die Nachtwolken müssen vergehen vor dem ruhigen Glanz des Mondes.
Du sorachst: Mein Kind, nun liege
trotz dem, der dich betrüge;
schlaf wohl, laß dir nicht grauen,
du sollst die Sonne schauen.
Der Behütete, dessen Schlaf eine Erquickung war unter solchem Schutz und Schirm, will dem Treuen ein Opfer bringen:
Mein Weihrauch und mein Widder
sind mein Gebet und Lieder.
Die wirst du nicht verschmähen;
du kannst ins Herze sehen;
denn du weißt, daß zuur Gabe
ich ja nichts Bessers habe.
Die Sprache des demütigen Kindes. Und der Blick auf den kommenden Tag:
Sprich Ja zu meinen Taten,
hilf selbst das Beste raten;
den Anfang, Mitt´und Ende,
ach Herr, zum Besten wende.
Mich segne, mich gehüte,
mein Herz sei deine Hütte,
dein Wort sei meine Speise,
bis ich gen Himmel reise.
Ob es noch ein Lied gibt, das so wie dies zu dem Herzen des kleinen Kindes und zugleich zu dem Wünschen des Gereiften und Besinnlichen spricht? Hier ist wahre Einfalt zugleich echte Kunst geworden. Das echte Naturgefühl, das in diesem Morgenlied durchbricht, ist dann im Abendlied noch breiter und wuchtiger zu seinem Rechte gekommen.
Nun ruhen alle Wälder,
. . . . . .
. . . . . .
es schläft die ganze Welt!
Dieses Lied wird wohl durch die Sitte entstanden sein, beim abendlichen Turmblasen den Choral “O Welt, ich muß dich lassen” zu spielen. Diese Melodie wurde 1590 durch den kaiserlichen Kapellmeister Hans Isaac geschaffen als Volkslied “Innsbruck, ich muß dich lassen”. Paul Gerhardt soll sie gehört haben, während er durch die abendlichen tz dieser Melodie sein Abendlied. Hier findet sich die uns allen seit der Jugend vertraute Strophe:
Breit aus die Flügel beide,
o Jesu, meine Freude,
und nimm dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen,
so laß die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein.
Und der Schluß mit seinem Gedenken an die Fernen und Nahen, die dem Einschlafenden lieb sind:
Auch euch, ihr meine Lieben
soll heute nicht betrüben
kein Unfall noch Gefahr.
Gott lass´euch selig schlafen,
stell´euch die güldnen Waffen
ums Bett und seiner Engel Schar.
So möge denn noch jenes freudvolle Lob- und Danklied etwas von diesem Frieden sagen, der aus der Nähe des segnenden Gottes fließt, das Gerhardt auf Sirach 50, 24 gedichtet hat:
Nun danket all´und bringet Ehr,
ihr Menschen in der Welt,
dem, dessen Lob der Engel Heer
im Himmel stets vermeldt.
Hinunter muß alles, was mich kränkt und quält — Gott ist hier und mit ihm das freudvolle Wandern auf der Straße, die zu der Heimat führt:
Er gebe uns ein fröhlich Herz,
erfrische Geist und Sinn
und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz
ins Meeres Tiefe hin.
Man muß diese Verse mit den Augen zu schauen versuchen, mit denen sie von dem Dichter einst geschaut worden sind, dann offenbart sich ihre unverwüstliche Kraft.
Er drücke, wenn das Herze bricht,
uns unsre Augen zu
und zeig´uns drauf sein Angesicht
dort in der ewgen Ruh.
Aus den verschiedenen “Kreuz- und Trostliedern” dieser ersten Sammlung ist besonders bekanntgeworden:
Ich hab´in Gottes Herz und Sinn
mein Herz und Sinn ergeben,
was böse scheint, ist mir Gewinn,
der Tod selbst ist mein Leben.
Ich bin ein Sohn
des, der den Thron
des Himmels aufgezogen:
ob er gleich schlägt
und Kreuz auflegt,
bleibt doch sein Herz gewogen.
Es ist merkwürdig, wie in diesen ersten Liedern vom Leid ein trockener lehrhafter Ton vorherrscht. Der Dichter steht auf der Kanzel und erwägt mit klugen, etwas nüchternen Gedanken, wie Gottes Wirken voll Weisheit sei. Der Schöpfer, der — wie später der Rationalismus so gern hervorhob– alles “mit Weisheit und Verstand” eingerichtet hat, der alles erhält, so daß
was er nicht hält,
das bricht und fällt,
was er erfreut, das lachet,
muß wohl auch wissen, wann Freud und wann Leid seinen Kindern diene, Darum ist es töricht, darüber zu klagen, daß “du nicht hast, was Fleisch und Blut begehret”! Gott sorgt dafür, daß
was du jetzt nennst Kreuz und Pein,
wird dir zum Trost gedeihen!
Aber nun mit einmal ist es, als ob sein Herz erwache, und aus all diesen weisen Belehrungen bricht´s mit einer hellen Freudigkeit heraus:
Wart in Geduld
die Gnad und Huld
wird sich doch endlich finden.
All Angst und Qual
wird auf einmal
gleichwie ein Dampf verschwinden.
Das sind seine eigenen Erlenisse, die ihn nicht mehr predigen, sondern singen heißen.
Ei nun, mein Gott, so fall´ich dir
getrost in deine Hände:
nimm mich und mach es du mit mir
bis an mein letztes Ende,
wie du wohl weißt,
daß meinem Geist
dadurch sein Nutz entstehe
und deine Ehr
je mehr und mehr
sich in ihr selbst erhöhe.
Willst du mir geben Sonnenschein.
so nehm ich´s an mit Freuden,
soll´s aber Kreuz und Unglück sein,
will ich´s geduldig leiden.
Da, wo des Dichters Seele spricht, wird auch seine Sprache groß und eindringlich. Aus diesem tiefen Grund heraus erwachsen später seine klassischen Trostlieder.