Zwischen Wittenberg und Halle liegt die ehemals kursächsiche Stadt Gräfenheinichen, die im Volksmund “Hainichen” genannt wird. Um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts war sie eine nicht unbedeutende Stadt. Hoch hinaus über die niedriegen Dächer hob sich der Turm der Marienkirche. Ein stattliches Schloß war der Sitz eines Adelsgeschlechtes, das sich “die von Müchels” nannte. Ein “Amtsschösser” vertrat den Kurfürsten und wachte eifersüchtig auf seine Gerechtsame. Drei Bürgermeister walteten über die Bürgerschaft. Einer von ihnen war der “regierende Bürgermeister”, der am Jahresende sein Zepter einem der beiden “ruhenden” übergab. Einer von diesen Bürgermeistern war “Herr Christian Gerhardt”, der Sohn eines Gastwirts. Seine Frau Dorothea, “hinterlassene Tochter des Ehrwürdigen und Achtbaren Wohlgelahrten Herrn Magisters Casper Starcke, Superintendenten zu Eifenburg”. Dorotheas Großvater war der Magister Gallus Döbler, gleichfalls Superintendent in Eifenburg. Der Geist von Großvater und Urgroßvater schwebte über dem Söhnlein, das nach dem Großvater den Namen Paul erhielt, als er am 12 März 1607 geboren wurde. (Die Kindertage sind leider nicht nachvollziebar). Die Schule gab ihm die Kenntnisse der lateinischen Sprache und die Fertigkeit im Gesang, da die Schüler im sonntäglichen Gottesdienst den Chorgesang ausübten. Die Zeit war jedoch voll kirchlichen Streites. Calvanismus und Luthertum lagen in schweren Ringen. Kurpfalz und Rheinland, Nassau und Hessen, Mecklenburg-Güstrow und Schleswig-Gottrop waren dem Geist des Genfer Reformators zugefallen. Die lutherische Konfission war die einheimische, konservative, ein Erbteil der Wittenberger Väter; die reformierte aber kam vom Ausland, war welsch angehaucht und vertrat den Fortschritt und die Zukunft. Die stillen Kindertage flogen nur zu schnell dahin. Die Kinder verloren ihre Eltern sehr früh. 1619 starb der Bürgermeister Christian Gerhardt, und zwei Jahre darauf tat die Mutter die immer sorgenden Augen zu. Vier Waisen standen an dem Grab. Paul war 14 Jahre alt, als er “mutter-seelenallein” in die dunkle Zukunft hineinschreuten mußte. Die neunjährige Schwester Anna kam zu Verwandten und hat mit ihnen die Nöten des Krieges, der Pest, der Teuerung und der Drangsal geteilt. Die jüngere Schwester Agnes scheint daheim geblieben zu sein. Die Söhne aber, Paul und der ältere Bruder Christian, sollten einst studieren. So gingen sie als Schüler nach Grimma. Dort war das ehemalige Augustinerkloster 1550 in eine Fürstenschule umgewandelt worden. Am 4. April 1622 ist Paul dort eingetreten. Paul hatte dort kein leichtes Leben, trotzdem verließ er am 15. Dezember 1627 die Fürstenschule und zog als Studiosus der Theologie nach Wittenberg auf die stolze Universität des protestantischen Nordens, die sich rühmen durfte, unter dem Geist Martin Luthers zu stehen, und die darum die meistbesuchte Hochschule Deutschlands geblieben war, auch als die Schrecken des großen Krieges anderen Hochschulen geboten, zeitweise ihre Pforten zu schließen. Die Namen der Lehrer, zu deren Füßen der junge Studiosus gessesen ist lauten: Jacob Martini, Wilhelm Leyser, Johann Hülsemann und vor allem Paul Röber. Der war nicht nur ein Theologe, sondern auch ein Künstler. Der Studiosus mag an diesem Lehrer mit besonderer Liebe gehangen haben. Er hat ein Lied von Paul Röber später umgedichtet. Aus dieser Studienzeit Gerhardts ist so gut wie nichts bekannt. Viel Grauen wird er im Dreißigjährigen Krieg geschaut haben. Seine Vaterstadt Gräfenhainichen ging in Flammen auf, als der Schwede die Brandfackel hineinwarf. Die Pest kam im Gefolge des Hungers und tat ihr grausiges Werk. Auch Paul Gerhardts Bruder Christian scheint ihr erlegen zu sein. Wenigstens berichtet das Beerdigungsregister von Gräfenhainichen am 7. November 1637 den Tod eines Christian Gerhardt, Schöppenmeister. Der Weg, den Gerhardt in dieser dunklen Zeit gegangen ist, war ein Weg durch “Not und große Schrecken, die alle Welt bedecken”. Als er sein Lied sang Gott lob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenswort, wußte er von den “zerstörten Schlossern und Stödten voller Schutt und Asche zu sagen”:

Ihr vormals schönen Felder
mit frischer Saat bestreut,
jetzt aber lauter Wälder
und dürre wüste Heid,
ihr Gräber voller Leichen
und blutgem heldenschweiß
der Helden, deren gleichen
auf Erden man nicht weiß.

So schaut aus diesen Versen noch das ganze Grauen, durch die sein junges Leben hat gehen müssen. Das Herz des Dichters war noch beladen mit der unsäglichen Not seiner Heimat.